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Ergebnisse einer Studie des Goinger Kreises zur Spaltung der Gesellschaft
Teil 1: Methode und Überblick

Überbrückungshilfe. Zusammenhalt der Gesellschaft – wodurch er gefährdet wird und was wir in Unternehmen für ihn tun können.

Von Axel Klopprogge, Carola Eberhardt, Jürgen Deller, Katharina Heuer, Karen Hoyndorf

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In einem Projekt zur Überwindung sozialer Spaltung hinterfragt der Goinger Kreis übliche Erklärungsmuster und blickt selbstkritisch auf das eigene Handeln in Unternehmen und Personalarbeit. In der Studie „Überbrückungshilfe. Zusammenhalt der Gesellschaft – wodurch er gefährdet wird und was wir in Unternehmen für ihn tun können“ werden die Methode und erste Ergebnisse vorgestellt.

Arbeitslosigkeit statt Ansteckung – die Dauer schafft eine neue Dimension der Angst

Vielfach besteht Sorge über die gesellschaftliche Polarisierung in den USA und den Links- oder Rechtspopulisten in anderen Ländern. Und schließlich fragen sich auch in Deutschland besorgte Menschen: „Wie kann es passieren, dass so viele Menschen etwas wählen, das sie doch gar nicht wählen dürften?“ Es fallen Begriffe wie Populismus, Verrohung, Abgehängtsein und soziale Spaltung. Gerade von sozialer Spaltung ist viel die Rede. Inzwischen gibt es ein von der Bundesregierung gefördertes Forschungsprojekt zu diesem Thema.

Wenn es um gesellschaftlichen Zusammenhalt oder Vermeidung sozialer Spaltung geht, werden wir im Goinger Kreis hellhörig. Seit über 15 Jahren haben wir uns an verschiedenen Fronten sowohl analytisch-wissenschaftlich wie auch ganz praktisch verschiedenen Aspekten dieser Frage gewidmet. Uns liegt die Frage zutiefst am Herzen, aber wir haben auch gelernt, das Thema differenziert anzugehen und nicht sofort in übliche Reflexe und Erklärungsmuster zu verfallen. Wie in allen Themen möchten wir nicht zu schnell gängigen Erklärungen folgen, sondern uns fragen: Was ist Henne und was ist Ei? Und was können wir selbst in unseren Funktionen und Rollen zur Lösung beitragen?  

Gesellschaftliche Veränderung verstehen, ohne eingespielten Reflexen zu verfallen

Bei Diskussionen zur sozialen Spaltung landet man schnell bei bestimmten Kenngrößen wie etwa der berühmten Einkommensschere. Gewiss gibt es Anzeichen, dass der jahrelange Aufschwung nicht bei allen gleichermaßen angekommen ist – selbst wenn die Schere gar nicht mehr auseinandergeht. Und, zugegeben, auch im wirtschaftlichen Boom war nicht alles Gold, was glänzt – geschweige denn, was in Folge der Corona-Krise oder des Ukraine-Krieges auf uns zukommen wird. Und gewiss gibt es immer Gruppen, die messbar benachteiligt sind. Aber weder Deutschland und Europa sind in sozialer Hinsicht ein „Failed State“. Man sollte soziale Spaltung nicht nur anhand statistischer Phänomene festmachen noch sie ausschließlich im Hinblick auf staatliche Umverteilungsprogramme diskutieren.

Unser Vorbehalt betrifft auch andere reflexartige Verbindungen, zum Beispiel dass Ungleichheit mit Ungerechtigkeit gleichgesetzt wird oder dass von Gehaltsunterschieden sofort auf soziale Spaltungen geschlossen wird. Er betrifft auch den reflexartigen Blick auf die „üblichen Verdächtigen“ der Benachteiligung. Aus vielen Gesprächen mit unseren Mitarbeitern wissen wir, dass andere Faktoren oft eine viel größere Rolle für die soziale Unzufriedenheit spielen als die absolute Höhe eines Geldbetrages oder Gehaltsunterschiedes – selbst dann, wenn der Schuh finanziell wirklich drückt.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt kann an anderer Stelle verlorengehen. Welche Folgen hat es, wenn Menschen nur noch in gentrifizierten Quartieren wohnen und nie Gelegenheit haben, Menschen anderer Herkunft oder Schichtzugehörigkeit kennenzulernen, nicht einmal während eines Ferienjobs oder beim Wehr- oder Zivildienst? Während die einen Verschwörungstheorien gegenüber „denen da oben“ entwickeln, fangen die anderen an, die Lebensweisen, Träume, Denkwelten und Nöte einfacher Menschen zu verachten. Echokammern bilden sich überall dort, wo Menschen unterschiedlicher Lebenswelten sich schlichtweg nicht mehr begegnen. Sie verstärken sich, wenn wir nicht mehr in der Lage oder willens sind, mit Andersdenkenden zu diskutieren, es sogar als moralisch hochwertig ansehen, sich dem Diskurs zu verweigern. Es ist aber nicht moralisch hochwertig, wenn 51 Prozent den restlichen 49 Prozent den Dialog und Respekt verweigern. Auch nicht, wenn 80 Prozent dies mit 20 Prozent tun – und erst recht nicht, wenn 5 Prozent Elite dies mit 95 Normalbevölkerung tun. Vielleicht wundert man sich jetzt über diese Zahlenkombinationen. Entsteht nicht nach üblicher Deutung Spaltung, wenn eine große Mehrheit eine kleine Minderheit unterdrückt? Wir wären schon genau an dieser Stelle vorsichtig. Die Diskriminierung kleiner Minderheiten kann etwas sehr Schlimmes sein, aber ist der Begriff der Spaltung dafür der richtige Ansatzpunkt?

Unser Unbehagen betrifft auch die typische Abstrahierung zu Begriffen wie „Populismus“, die Etiketten verteilen, aber wenig erklären. Uns gefällt auch nicht die reine Beobachterposition von jemand, der darüber urteilt, warum die anderen anders sind, als wir es uns wünschen. Wir wollen vermeiden, über einen „gutgemeinten“ abstrakten Begriff wie „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ zu philosophieren. Vielleicht brauchen wir für unser Thema nicht die klassischen Erklärungsmuster der Benachteiligung, Diskriminierung, Ungerechtigkeit. Vielleicht gibt es andere Mechanismen, die zu realer und empfundener sozialer Spaltung führen können. Möglicherweise muss man sich von dem summarischen Begriff der sozialen Spaltung verabschieden. Deshalb sehen wir als permanente Herausforderung die Fragen: Begegnen sich Menschen unterschiedlicher Schichten? Kennen wir die Lebenswelten anderer Menschen? Können wir noch miteinander reden? Gibt es explizite Spaltungsideologien?

Wir wollen unsere eigenen Stellhebel besser verstehen und nutzen

Diese Fragen betreffen nicht zuletzt uns selbst. Wir wollen uns selbst nicht als Beurteiler oder Beobachter, Ankläger oder Richter sehen, sondern als Akteure. Wir sind keine Opfer und wir sind nicht unbeteiligt. Wir selbst sind verantwortlich als Manager, Politiker, Professoren oder Berater und wir sollten diese Rolle und die damit verbundene Verantwortung annehmen. Dies gilt besonders, da wir zu einem großen Teil dem Personalmanagement verbunden sind, ja vielfach explizite gestalterische Verantwortung in diesem Thema tragen. Wer sollte etwas beeinflussen können, wenn nicht wir? Wir haben in unseren Unternehmen Menschen, die mehr verdienen und andere, die weniger verdienen. Wir haben unterschiedliche Bildungsgänge, unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche Freiheitsgrade, unterschiedliche Nationalitäten und Kulturen, unterschiedliche Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen. Auf all das haben wir Einfluss. Wir entscheiden, wer eingestellt wird und wer nicht. Wir beeinflussen Karrieren, ja überhaupt die Durchlässigkeit innerhalb von Unternehmen. Wir haben Einfluss auf Sozialleistungen und darauf, welche Themen überhaupt zur Sprache kommen und wie sie diskutiert werden. Ob wir wollen oder nicht, wir haben Einfluss auf eine große Anzahl von Stellhebeln des sozialen Zusammenhalts. Dies gilt negativ oder positiv. Dabei denken wir noch nicht einmal nicht an bewusstes Fehlverhalten schwarzer Schafe: Vielleicht tragen wir zu Spaltungen bei, ohne dass es uns bewusst ist. Vielleicht machen wir aber auch bestimmte Dinge gut, von denen man in anderen Bereichen lernen kann.

Als gesellschaftlich mitdenkende Personalmanager, Unternehmensberater, Wissenschaftler, Politiker sehen wir im Goinger Kreis eine Liste von Themen, die sich sicher fortsetzen ließe. In einigen Themen haben wir uns bereits in der Vergangenheit engagiert, etwa zur schwierigen Schnittstelle zwischen Hauptschule und Berufseinstieg, der Arbeitsintegration von Flüchtlingen oder Elementen sozialer Spaltung innerhalb der Digitalisierung. Ebenso zeichnet sich auch ab, dass die Corona-Krise bestimmte Treiber sozialer Spaltung verstärken wird. Und der ökologische Umbau der Wirtschaft ist nicht nur eine ökologische oder moralische Frage, sondern auch eine soziale Herausforderung, die mit Millionen erwerbstätiger Menschen bewältigt werden muss. Spannend und entscheidend an vielen dieser Themen ist, dass sie sozialen Sprengstoff enthalten, obwohl sie auf den ersten Blick nicht das Etikett „sozial“ tragen, ja obwohl sie wie die Digitalisierung oder der ökologischer Umbau von ehrenwerten Motiven betrieben werden.

Ungewollte Spaltpilze in der Personalarbeit?

In unserem aktuellen Projekt zur Überbrückung sozialer Spaltung gehen wir bei fünf Aspekten im engeren Bereich von Unternehmen und Personalarbeit in die Tiefe und leiten Handlungsempfehlungen oder eigene Aktionen ab:

  • Verlorene Generation? Der Weg von Jugendlichen in den Beruf.
    Den ersten Job zu finden, ist für viele Schüler nicht einfach. Das gilt insbesondere für diejenigen, denen entscheidende Schlüsselkompetenzen fehlen. Im Bewerberverfahren verlangen die Unternehmen viel. Für viele Hauptschulabgänger ist das eine enorme Hürde: Wie kann man Jugendliche für den Übergang von Schule zu Beruf fit machen? Dies gilt besonders für bildungsferne Schichten. Der Kontext dieses Themas hat sich in den letzten 15 Jahren geändert. Zur Zeit kommt eine neue Komponente hinzu: In den Schulen findet unter Corona-Bedingungen eine stärkere Differenzierung statt. Schüler aus bildungsfernen Schichten werden noch stärker abgehängt als ohnehin. Und durch den Lockdown wird der Schritt in den Beruf, ja die Vorstellung, was überhaupt Erwerbsarbeit sein könnte noch schwieriger. Was können wir als Unternehmen dafür tun, die Kluft zu überbrücken?
  • Wie reden wir über Arbeit in Unternehmen?
    Die Wettschätzung von Arbeit und von bestimmten Berufen wird erst recht erschwert, wenn wir nicht mehr in der Lage sind, über Arbeit in einer Weise zu reden, die das Eigentliche in den Vordergrund stellt. „Purpose“ einer Arbeit ist nicht etwas außerhalb der Arbeit, sondern es liegt in der Arbeit selbst.
  • Einfache Arbeit und Mitarbeiter in prekären Verdienstsituationen.
    Trotz allem Reden über den Hightech- und Hochlohnstandort Deutschland gibt es Millionen Menschen, die in einfachen Tätigkeiten arbeiten. Tätigkeiten, die kein Studium erfordern, und Tätigkeiten, die angelernt werden können. Diese Arbeiten sind für die Gesellschaft unverzichtbar, aber gleichzeitig liegen die Löhne oft wenig über dem Mindestlohn – und vielfach würde ein höheres Einkommen die Arbeiten zum Verschwinden bringen. Mit den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 vollzog sich die Rückkehr der einfachen Arbeit, an die wir alle nicht mehr geglaubt hatten. Das ist ein Riesenerfolg, vor allem auch deshalb, weil es von einfacher Arbeit viel leichter zur Weiterentwicklung geht als der direkte Weg aus der Arbeitslosigkeit. Andrerseits gibt es auch zahlreiche Probleme, zum Beispiel mit Lebenshaltungskosten in Ballungsräumen. Was heißt das personalpolitisch? Und wie schaffen wir es, diese Menschen nicht nur als Opfer prekärer Arbeitsverhältnisse zu sehen, sondern ihnen Stolz und Anerkennung für ihre Arbeit zu geben?
  • Durchlässigkeit und Begegnung in der Personalentwicklung.
    Über Jahrzehnte wurde eine hohe Akademikerquote als Gradmesser sozialer Durchlässigkeit angesehen. Alles und jede Tätigkeit sollte akademisiert werden. Bis zu einem gewissen Grade hat dies neue Chancen geschaffen, aber diese Phase liegt längst hinter uns. Nicht nur hat es ein großes Heer von Schmalspurakademikern geschaffen, sondern es hat auch all die degradiert, die kein Abitur und Studienabschluss haben. Bei sechs Prozent Akademikerquote hat jeder Studierte großen Respekt vor einem Schreiner oder Metzger. Bei 50 Prozent Akademikerquote ist ein Schreiner jemand, der keine Gymnasialempfehlung bekommen hat. 50 Prozent der Bevölkerung werden zu einer gescheiterten Restgruppe. Auch in Unternehmen hat diese Haltung Spuren hinterlassen. Jahrelang war die Konzentration auf die Auswahl und Förderung von High Potentials und auf komplizierte und lukrative Vergütungsmodelle für Führungskräfte eines der Top Themen der Personalarbeit. Wie viel Durchlässigkeit gibt es heute noch in der Personalentwicklung von Unternehmen?
  • Diskurs und identitäres Denken.
    Unternehmen sind darauf angewiesen, dass es eine Vielfalt der Kompetenzen, Sichtweisen und Erfahrungen gibt. Genauso wie in der Wissenschaft gehört auch hier dazu, sich zu streiten und um die beste Lösung zu ringen. Aber gleichermaßen sind Unternehmen darauf angewiesen, dass diese verschiedenen Fähigkeiten auch zusammenspielen – mit anderen Worten, dass die Menschen in Unternehmen miteinander reden können. In Unternehmen ist viel die Rede von Diversität und ihren positiven Effekten. Angesichts der internationalen Struktur von Unternehmen ist eine größere Buntheit auch ein natürlicher Effekt. Aber was bedeutet Diversität in der Praxis? Ist es ein Bemühen um eine Vielfalt im obigen Sinne? Vielfach wird das Bemühen um Diversity mit dem identitären Denken gleichgesetzt. Der nächste Schritt ist bereits getan, dass Aktivisten solche Identitäten zu Communities zusammenfassen und dafür kämpfen, dass sich alle so Gekennzeichneten als Mitglied „ihrer“ Community verstehen und die Welt nur doch durch diese Brille sehen. Auch jedem anderen wird unterstellt, die Welt durch seine identitäre Brille zu sehen. Deshalb solle sich niemand mehr aus der Perspektive einer anderen Identität äußern dürfen. Was bedeutet dieses Konzept von Vielfalt für den Zusammenhalt und die Diskursfähigkeit von Organisationen?

Wie wollen besser verstehen, welcher soziale Sprengstoff in diesen und anderen Themen enthalten ist, mit denen wir in unseren Unternehmen und unserem Wirkungskreis täglich zu tun haben. Wir wollen Zusammenhänge offenlegen, Bewusstsein schaffen und wenn möglich konkrete Anregungen geben – natürlich nicht zuletzt für uns selbst. Stück für Stück werden wir die Ergebnisse aufbereiten und veröffentlichen.