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Die Rolle menschlicher Beziehung für 
virtuelles Führen und Zusammenarbeiten

Von Axel Klopprogge, Anne Burmeister und Arndt Kempen

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Wir sind froh, dass wir in der Corona-Pandemie die Möglichkeiten virtueller Zusammenarbeit haben. Aber es macht stutzig, dass das Homeoffice als Arbeitsform der Zukunft beschrieben wird, obwohl es in vieler Hinsicht das Gegenteil der bis vor kurzem als agil bezeichneten Arbeitsformen ist. Eine Studie des Goinger Kreises untersucht, welche Erfahrungen Führungskräfte und Mitarbeiter mit virtueller Führung und Zusammenarbeit machen. Welchen Preis bezahlt man und was kann man tun, diesen Preis niedrig zu halten?

Das Homeoffice und die Möglichkeit zur virtuellen Zusammenarbeit mit räumlich entfernten Arbeitspartnern haben während des Lockdown viel geholfen. Es hat auch bisher zögernden Unternehmen und Branchen gezeigt, dass Homeoffice und virtuelle Zusammenarbeit möglich sind. Dies ist eine kollektive Lernerfahrung, die auch nach der Corona-Krise wirken wird. Viele Unternehmen überdenken bereits, ob das Arbeiten ohne räumliche Nähe im Büro nicht ein Modell für die Zukunft sein kann. Veröffentlichungen sprechen bereits von „New Work“. Aber genau solche Begriffe machen stutzig. „New ways of working“ – waren das nicht die agilen Arbeitsformen, bei denen man hierarchiefrei in offenen Bürolandschaften möglichst eng und persönlich miteinander arbeitet? Und ist nicht das Homeoffice eine extreme Form des isolierten Einzelbüros mit stark hierarchisch-sozialer Komponente? Es ist notwendig, zu verstehen, was passiert, wenn Menschen zusammenarbeiten ohne räumliche Nähe.

In einer mehrstufigen sowohl empirischen wie analytischen Projektarbeit mit wissenschaftlicher Begleitung hat sich der Goinger Kreis dieser Frage gewidmet: Was passiert in der virtuellen Zusammenarbeit zwischen den Menschen jenseits der technischen Machbarkeit? Basis der Studie waren zwei empirische Untersuchungen: Zum einen sehr früh im März 2020 die Erfahrungen von 25 Unternehmen aus verschiedenen Ländern und Branchen, veröffentlicht unter dem Titel „Fernverbindung“. Gesprächspartner waren in der Regel Personalverantwortliche, die für Problemzonen sensibilisierten. Auf diese eher helikopterartige Perspektive folgten ab April 2020 rund 30 möglichst offene Tiefeninterviews mit Führungskräften und Mitarbeitern, die konkret über ihre jeweiligen Erfahrungen mit virtueller Zusammenarbeit und ihr Vorgehen berichteten. Diese Interviews reichten bis in den Juli 2020 hinein, als man wieder anfing, über die Rückkehr in frühere Räumlichkeiten nachzudenken.

Eine Botschaft der Gesprächspartner ganz unterschiedlicher Hierarchieebenen war klar: Trotz aller Dankbarkeit über die Möglichkeit der virtuellen Zusammenarbeit möchten die Mitarbeiter aller Ebenen ihre Kollegen wiedersehen und ihnen „nahe sein“. Ist das nur eine altmodische Vorstellung, die im professionellen Bereich und im Zeitalter digitaler Kommunikation nichts mehr zu suchen hat? Zwei Gründe sprechen dafür, den Wunsch nach Beziehung ernst zu nehmen und genauer zu betrachten:

  • Die Mitarbeiter können begründen und konkretisieren, warum sie Nähe zu ihren Kollegen suchen.
  • Die Erkenntnisse von Psychologie und Neurowissenschaften zeigen, dass die Beziehung zu anderen ein menschliches Grundbedürfnis ist. Wenn Beziehung fehlt, nimmt die Leistung ab und die Menschen werden krank. (Dazu zum Beispiel: Bauer, Joachim, Warum ich fühle was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, München 2005)

Dimensionen der Beziehung

Was bedeutet Beziehung in der virtuellen Führung und Zusammenarbeit? Welche Dimensionen gilt es zu beachten? Was sind Problemzonen und Handlungsfelder? Was kann man konkret machen?

Was passiert in der Beziehung zu mir selbst?
Nicht jeder ist gewohnt, seinen Tag selbst zu organisieren, wenn überall die Ablenkung lauert – Selbstorganisation im Homeoffice ist für alle Hierarchieebenen eine Herausforderung. Wann ist eigentlich Feierabend, wenn man ohnehin den ganzen Tag zu Hause ist? Die Antworten sind hier sehr unterschiedlich. Während die einen diszipliniert das „Nine-to-five“ auch zuhause praktizieren, genießen andere die zeitliche Flexibilität – oder leiden unter dem Fehlen einer natürlichen Grenze. Dafür spricht auch, dass die Äußerungen zur Frage, ob das Homeoffice eigentlich effizienter sei oder nicht, nicht nur uneinheitlich ausfallen, sondern von den Befragten explizit als noch unklar empfunden werden. Dies zeigen Äußerungen wie „Was ich gerne mache, geht schneller als im Büro, die ungeliebten Tätigkeiten dauern länger.“ Oder: „Strukturierte Tätigkeiten gehen disziplinierter, offenere Tätigkeiten fallen unter den Tisch.“ Eine andere Stimmen dagegen: „Endlich kann ich in Ruhe nachdenken.“ Da sowohl die Tätigkeiten als auch die Vorlieben unterschiedlich sind, kann es wohl keine allgemeine Regel geben. Aber eine Führungskraft sollte die Fragen der Arbeitszeiten und der Organisation immer wieder im Team ansprechen.

Was passiert in der Beziehung zum privaten Umfeld? 

Sehr früh wurde während des Lockdowns klar, dass das Homeoffice eine sozial hochgradig differenzierende Einrichtung ist. Dies fängt mit der praktischen Frage an, ob man denn im „Home“ überhaupt ein „Office“ hat. Die meisten „Büroangestellten“ – die natürlichen Kandidaten für das Homeoffice – haben zuhause kein eigenes und schon gar kein perfekt möbliertes Arbeitszimmer für sich alleine. Man teilt sich ohnehin einen begrenzten Wohnraum mit Partner, Kindern, vielleicht noch zu pflegendendem Angehörigen und jetzt soll man hier noch so effektiv arbeiten wie im Büro – und Kollegen und Chef schauen einem dabei ins Schlafzimmer. Stoßseufzer eines Interviewten: „Bei einem dreijährigen Kind kannst du nicht erklären, dass Papa immer noch mal etwas am Computer arbeiten muss.“ Dies wird von vielen als Belastung empfunden. Aber es gibt auch psychologische Belastungen, die nicht mit fehlenden Quadratmetern zu tun haben. Befragte berichten, dass dieselbe Arbeit für die Familie nicht dasselbe Prestige hat, wenn sie statt im Büro von zuhause am Küchentisch gemacht wird. Wenn man das Haus verlässt, ist es „echte Arbeit“. Wenn man zuhause arbeitet, heißt es: „Die Mutti telefoniert ja nur den ganzen Tag.“ Oder: „Komme ich um 14 Uhr aus dem Büro zum Kindergeburtstag, dann wird es als früh gelobt. Passiert dasselbe im Homeoffice, löst es eine Familienkrise aus.“ Auch dieses Feld sollte von Führungskräften thematisiert werden und ebenso auch von den Mitarbeitern selbst in ihrem häuslichen Umfeld. Aber wir sollten nicht glauben, auf diese Weise Quadratmeter-Probleme restlos lösen zu können. Zumindest relativiert es manche romantische Vorstellung vom Homeoffice als zukünftiger Arbeitsnormalität.

Was passiert mit der Beziehung im Team?

Für viele Menschen ist Arbeit auch Nähe zu den vertrauten Kollegen. Eine von vielen Stimmen aus den Interviews: „Der persönliche Aspekt ist sehr wichtig und das Team vermisst sich.“ Für ältere Mitarbeiter ist der persönliche Kontakt oft einer der Hauptgründe, überhaupt noch zu arbeiten. Eine Interviewte erinnert sich wehmütig an den Büroalltag: „Ich sehe auch Leute, mit denen ich nicht telefoniere, weil ich mit ihnen gerade kein Projekt habe. Man läuft sich aber über den Weg und denkt: Ah, den gibt es ja auch noch!“ Auch die Zusammenarbeit funktioniert umso besser, je mehr sich die Beteiligten persönlich kennen und auch informell Zeit miteinander verbracht haben. Schwache Signale sind oft sehr wertvoll, um Probleme zu erahnen, bevor sie virulent werden. Anspruchsvolle Projekte und Veränderungen haben auch eine „innenpolitische Seite“: Man braucht das Wohlwollen auch von Menschen, die nicht direkt in eine Projektarbeit involviert sind. Wenn man nachfragt, was der berühmte Plausch an der Kaffeeecke, das Mittagessen in der Kantine oder das Feierabendbier bedeuten, dann kommen solche Aspekte zutage. Viele Tätigkeiten brauchen Anleitung, Rückfragen, Unterstützung. Stille Kollegen können leicht in der Unsichtbarkeit verschwinden. Für Stellenbewerber ist es schwer, die Unternehmenskultur zu spüren, für neue Mitarbeiter, in Netzwerke und informelle Strukturen hineinzuwachsen, für Auszubildende, durch Zuschauen von erfahrenen Kollegen zu lernen. Und für neue Teams ist es schwer, das Basisvertrauen aufzubauen. Was bedeuten Loyalität und Identifikation mit einem Arbeitgeber, wenn dieser gar nicht erlebbar wird? Unternehmen und Führungskräfte müssen für diese Fragen Antworten finden, die in der Regel wohl ein Mosaik kleiner aufmerksamer Maßnahmen sein werden.

Was passiert in der Beziehung zu den Arbeitspartnern?

Arbeitspartner sind keineswegs nur Kollegen, sondern auch Lieferanten, Kunden, Berater, Kooperationspartner. Wie die Befragung erhärtet hat, spielt der Unterschied von intern und extern oft nur eine untergeordnete Rolle. In der heißen Phase von Projekten müssen die Beteiligten einfach funktionieren. Umso wichtiger ist es, im Vorhinein persönliches Vertrauen aufzubauen. In vielen Tätigkeiten spielen der persönliche Augenschein und der Kontakt zu den jeweiligen Spezialisten eine wichtige Rolle. Wo sich Arbeitspartner seit langem kennen und zusammenarbeiten, kann man eine Lockdown-Phase recht gut überbrücken. Ja, ironischerweise haben sich durch die plötzliche Regelmäßigkeit von Videokonferenzen die Arbeitsbeziehungen in solchen Teams sogar noch intensiviert. Früher hat man alles auf die halbjährlichen persönlichen Treffen verschoben, jetzt behandelt man es im Wochenrhythmus per Video. Eine Stimme charakterisiert es so: „Das globale Team ist näher zusammengewachsen. Jeder ist jetzt gleichermaßen ein Telefonat entfernt!“ Aber dieses idyllische Bild passt nicht auf alle Strukturen, Aufgaben und Charaktere, und es passt zwangsläufig umso weniger, je länger die räumliche Trennung dauert.

Was passiert in der Führungsbeziehung? 

Nicht überraschend war der Befund, dass auch die Führungsbeziehung besser funktioniert, wenn man sich vorher und über einen längeren Zeitraum kennt. In einer vertrauensvollen Beziehung sind auch bei räumlicher Trennung und digitaler Kommunikation erstaunliche Dinge möglich wie Gespräche über private Probleme und Ängste, sogar auf Initiative des Mitarbeiters. Es gilt die Faustregel: Wer vor Corona gut geführt hat, kommt auch mit der virtuellen Situation besser zurecht. Wer vorher schon führungsschwach war, erweist sich in der virtuellen Führung unter Krisenbedingungen als noch schlechter. Die vielleicht einhelligste Erkenntnis aus den Gesprächen: Das Zufällige, das Informelle, das Spontane, das Emotionale und Empathische – alles muss organisiert werden, so widersprüchlich das klingt. In der virtuellen Führung gibt es keine Zufälle, im Netz begegnet man sich nicht zufällig oder spontan, man kann nicht mal eben vorbeischauen. Man muss sich zum Beispiel in straffen Routinemeetings Zeit für das scheinbar Unnütze und Überflüssige nehmen. Man muss vielleicht häufiger als gewohnt einen Moderator hinzunehmen, um als Führungskraft freier zu sein und besser auf die schwachen Signale hören zu können. Man muss häufiger bewusst alle explizit und vollständig nach ihrer Meinung fragen und nicht abwarten, was von selbst kommt. Eine Führungskraft: „Man muss die stilleren Kollegen auf die virtuelle Bühne bitten.“

Beziehung ernst nehmen – Technik für Beziehungsarbeit nutzen.

Dabei geht es nicht darum, einer „kalten Technik“ ein einseitig psychologisierendes Verständnis gegenüberzustellen. Emotionalität und Beziehung haben vielmehr verschiedene Dimensionen:

  • Die persönliche Empathie: Dass man Menschen mag und sich um sie kümmert – einschließlich der persönlichen Situation.
  • Die Führungsprozesse: Wenn die Führungsprozesse den virtuellen Mitarbeiter allein lassen, ihm misstrauen oder ihn behindern, dann nützt auch die gut gemeinte Frage nach den Kindern nichts.
  • Die Technik: Wenn die Technik nicht vorhanden ist, nicht funktioniert oder nicht eingeübt wird, kann das „empathische Potential“, das in den Instrumenten steckt, nicht ausgeschöpft werden.

Gute Führung unter virtuellen Bedingungen, räumlicher Entfernung, Homeoffice und digitaler Kommunikation bedeutet nicht nur, Besprechungen zu leiten oder bilateral Beziehung zu Mitarbeitern zu pflegen, nicht nur, in Videokonferenzen den Kindern zuzuwinken. Die Führungskraft muss vielmehr auch das Gesamtsystem und die damit verbundenen Herausforderungen und Belastungen verstehen. Sie muss Problemlöser und „Enabler“ sein. Dabei lassen sich zwei Punkte hervorheben:

  • Technik ist wichtig: Emotionen und Beziehung sind nicht etwas „Esoterisches“ neben Prozessen und Technik, sondern auch Technik und Prozesse haben hochgradig emotionale und soziale Effekte – zum Beispiel durch die visuelle Dimension oder die Nutzung interaktiver Instrumente.
  • Lernen ist wichtig: Zusammenarbeit ist auf Dauer mehr als das Abarbeiten von Tagesordnungen per Videokonferenz. Auch die analoge Zusammenarbeit, die eigentlich viel einfacher und „natürlicher“ ist, hat man in der Vergangenheit systematisch trainiert (Präsentieren, Moderieren, Gesprächsführung etc.). Dies muss auch mit der virtuellen Zusammenarbeit passieren.

Unter dem Stichwort der „Agilität“ wurde bis vor kurzem die segensreiche Wirkung des persönlichen und räumlich engen Zusammenwirkens von Menschen gepredigt. Diese Aussagen haben nichts an Richtigkeit verloren. Es ist klar, dass man für den plötzlichen Wechsel zum Gegenteil einen Preis bezahlt. Aber durch besseres Verstehen und Lernen kann man diesen Preis verringern.